Die Ratte hielt ihre Nase hoch und schnupperte. Ihre Barthaare zitterten. Von der Wiese wehte ein verführerischer Duft herüber. Nicht weit entfernt standen zwei Menschen. Ein gutes Zeichen, das bedeutete reichlich Abfall. Sie hatte keine Furcht vor Menschen. Gleich würde die Dämmerung einsetzen und in den aufkommenden Schatten war sie kaum zu entdecken. Zudem war sie schnell. Sehr schnell. Doch heute zögerte sie. Irgendetwas war anders.
Ich legte mehr Kohle auf den Grill. Bis die Gäste kamen, war noch genug Zeit. Holger feierte seine Hauseinweihung und ich hatte mich bereit erklärt, den Grill zu übernehmen. Er öffnete eine Flasche Bier.
„Na, wie findest Du mein Haus?“
„Sehr schön! Beeindruckend groß, aber liegt es nicht ein bisschen einsam?“, wagte ich einzuwenden.
„Alles Absicht. Nur mit meinen guten Beziehungen habe ich in diesem Gebiet die Baugenehmigung erhalten. Die Landschaft hier ist wundervoll.“
Ich konnte ihm nur zustimmen.
Die Ratte zog sich in ihr Loch zurück. Der ehemalige Kaninchenbau war geräumig. Die Kaninchen hatte man verjagt, so dass sie der alleinige Herr über die vielen unterirdischen Gänge des Deiches war. Die Ratte bewegte sich fast geräuschlos. In einem der Tunnel ertönte plötzlich ein leises Plätschern. Sie erstarrte und lauschte beunruhigt mit hoch aufgerichteten Ohren.
Über dem Fluss tauchen dunkle Wolken auf, doch hier hinter dem Deich beschienen Sonnenstrahlen die Wiese. Holger winkte mir.
„Komm wir schauen uns den Fluss an.“
Wir stiegen auf die Deichkrone. Der Fluss führte viel Wasser und hatte am gegenüberliegenden Ufer weite Bereiche überschwemmt.
„Dort drüben ist die Grenze zu Polen“, Holger deutete mit der Flasche in Richtung Fluss. Ich konnte nichts erkennen.
„Wo?“, fragte ich.
„Das Grenzschild steht heute nahezu unter Wasser. Nur ein kleines Stück von ihm ist dort drüben zu sehen.“
Er fuhr fort: „Auf der polnischen Seite haben sie kaum Deiche. Die lassen das Wasser durch die Auen und Dörfer fließen. Gut für uns, das entlastet den Deich und erlaubt mehr Bauland auf unserer Seite der Grenze.“
Holger schmunzelte zufrieden und trank einen großen Schluck von seinem Bier.
Aus der Decke vor ihr tropfte jetzt Wasser. Schnell bildete sich ein Rinnsal im Gang. Die Ratte drehte sich um und lief zum Höhlenausgang zurück.
Wir stiegen den Deich hinunter und gingen über die weiche Wiese zurück zum Haus. Ich krempelte meine Hosenbeine hoch.
“Habt ihr keine Angst vor dem Hochwasser? Heute Abend soll der höchste Wasserscheitel schon die Flussbiegungen weiter südlich erreichen“, fragte ich.
„Ach was, die paar Pfützen nimmt mein Auto locker. Schau es Dir an, ein Offroader erster Klasse. Verbraucht schon mal 20 Liter auf 100 Kilometer“, antwortete Holger und zeigte nicht ohne Stolz auf einen beeindruckend großen Geländewagen, der am Rande der Wiese stand.
Die Ratte hatte den Ausgang erreicht und steckte den Kopf ins Freie. Gleich würde die Dämmerung stark genug sein und sie könnte sich dem Futter nähern. Doch sie verspürte keinen Appetit. Nervös bewegte sie ihren Kopf hin und her und lauschte dem einsickernden Wasser. Am liebsten würde sie von hier weg, quer über die Wiese laufen.
Die Kohle glühte. Ich legte die Steaks auf den Grill. Holgers Frau zündete die Öllampen an und nahm die Folien vom Buffet.
„Da kommen die Gäste“, rief Holger und zeigte auf die Lichter der anrollenden Wagen.
Eine Wasserwelle lief über den Fluss. Das Grenzschild versank gänzlich in den braunen Fluten. Die Ratte rannte los.
Die Autos hielten und lachende Gestalten tauchten am Gartenzaun auf. Ich sah einen schwarzen Schatten über die Wiese laufen. Er hielt nicht an, sondern bewegte sich schnell zum gegenüberliegenden, weit entfernten Ende. Schon bald war er nicht mehr zu sehen.
Zwischenspiel - Grenzenlos
