Diese Geschichte von Edwin A. Abbott aus dem Jahr 1882 enthält ein Gleichnis von unschätzbarem Wert. Sie hilft zu verstehen, wie uns kollektive Gedankenformen in einer begrenzten Realität gefangen halten.
Die Geschichte trägt den Titel „Flächenland“ und spielt in einem Land, das nur zwei Dimensionen kennt: Länge und Breite. Die Bewohner des Flächenlandes sind geometrische Formen wie Dreiecke, Vielecke oder Kreise. Wenn wir uns Flächenland vorstellen, sehen wir die geometrischen Figuren von oben aus der dritten Dimension. Abb. 01
Wenn wir die Perspektive der Flächenländer einnehmen wollen, können wir beispielsweise ein Dreieck aus Papier auf einen Tisch legen und uns mit unseren Augen langsam auf Tischhöhe begeben. Je mehr wir uns mit unseren Augen der Tischkante nähern, desto flacher erscheinen uns die Winkel des Dreiecks, und sobald wir uns tatsächlich auf Tischhöhe befinden, sehen wir nur noch eine Linie. Abb. 02
Die Flachländer sehen alle Formen als Linien. Durch ein ausgeklügeltes Wahrnehmungssystem ergänzen sie die Linien zu Flächen. So wie wir eigentlich nur Flächen und Linien sehen, die wir intuitiv zu Körpern im Raum ergänzen. Abb. 03
Der Erzähler von Abbotts Geschichte ist ein Quadrat. Das Quadrat berichtet von seinen Erfahrungen. Es macht uns mit allen Problemen des Flächenlandes vertraut. Mit den Gesetzen, der Geschichte und den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Die gesellschaftliche Stellung eines Flächenländers hängt beispielsweise von der Anzahl seiner Ecken ab. Abb. 04
Eines Tages hat das Quadrat einen seltsamen Traum: Es begegnet dem König des eindimensionalen Linienlandes und versucht ihm zu erklären, wie es in Flächenland aussieht. Doch der König von Linienland ist stur. Er kann sich nicht vorstellen, dass es so etwas wie eine Fläche geben könnte, und er verlangt vom Quadrat Beweise für diese angebliche „zweite Dimension“. Für ihn sieht das Quadrat wie eine eindimensionale Linie aus, so wie jede andere Linie in seinem Land.
Da das Quadrat aus der Fläche kommt, kann es ganz Linienland auf einmal überblicken. Aus der Perspektive der Linienländer, die aufgereiht auf einer Linie leben und sich kaum fortbewegen können, ist das eine übersinnliche Fähigkeit. Um den Linienkönig möglichst schnell von der Existenz der zweiten Dimension zu überzeugen, erzählt das Quadrat, was es von Linienland gesehen hat. Der König ist wenig beeindruckt. Jedes Kind hätte diese Informationen über Linienland sammeln können. Auch alle weiteren Überzeugungsversuche schlagen fehl. Alle Begriffe, die das Quadrat für seine Erklärungen verwendet, schrumpfen auf den Erfahrungshorizont des Linienlandes zusammen. Es gibt dort schlicht und einfach kein geistiges Konzept für Fläche.
Um zu beweisen, dass es trotzdem eine weitere Dimension gibt, bewegt sich das Quadrat aus Linienland heraus, so dass es für den König unsichtbar wird.
Doch der hält das alles für einen billigen Taschenspielertrick. Am Ende ist er so verärgert, dass er versucht, das Quadrat auf linienländische Art zu ermorden: mit schrillen Tönen. Das Geschrei der Linienländer reißt das Quadrat aus seinem seltsamen Traum und befördert es zurück nach Flächenland.
Es ist der Silvesterabend zur Jahrtausendwende. Im Haus des Quadrates erscheint ein seltsamer Besucher: Ein Kreis, der seinen Umfang ständig verändern kann. Das Quadrat hat keine Ahnung, wie der Kreis in sein Haus gekommen ist, da die Tür verschlossen war. Doch der Kreis behauptet, er sei in Wirklichkeit eine Kugel und komme aus einer dritten Dimension. Die Kugel weiß alles über Flächenland, und da sie von oben auch ins Innere des Quadrates hineinsehen kann, kennt sie sogar seine Träume und Gedanken. Aber das Quadrat ist ebenso ungläubig wie zuvor der Linienkönig. Es lässt sich nicht von einer dritten Dimension überzeugen. Auch dadurch nicht, dass die Kugel etwas aus seinem geschlossenen Schrank holen kann.
Da das Quadrat wie alle Quadrate in Flächenland ein Gelehrter ist, versucht es die Kugel mit geometrischen Erklärungen: Eine Linie wird von zwei Punkten begrenzt. Wenn wir die Linie parallel zu sich selbst verschieben, wird sie zu einem Quadrat. Das Quadrat wird von vier Linien begrenzt. Wenn wir jetzt das Quadrat parallel zu sich selbst nach oben verschieben, entsteht ein Gebilde, das von sechs Quadraten begrenzt wird. Wir nennen es Würfel. Abb. 05
Wie Sie sich denken können, scheitert auch diese Erklärung, da sich das Quadrat die neue Richtung „nach oben“ nicht vorstellen kann. „Oben“ ist für das Quadrat schlicht und einfach „Norden“. Alles andere ergibt in Flächenland keinen Sinn. „Nach oben, aber nicht nach Norden“ ist in Flächenland keine messbare Größe
Da es der Kugel immer nur zur Jahrtausendwende gestattet ist, einen Flächenländer in die dritte Dimension einzuweihen und die Zeit knapp wird, greift sie zum äußersten Mittel: Sie erhebt das Quadrat eigenhändig in die dritte Dimension. Im ersten Moment kann das Quadrat gar nichts mehr erkennen. Alles ist verschwommen. Das Quadrat hat keine Begriffe für das, was es jetzt wahrnehmen könnte. Es kann die einzelnen Wahrnehmungsdaten keiner Form zuordnen und hat das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Nach und nach entwickelt es jedoch die Fähigkeit, dreidimensional zu sehen. Jetzt kann das Quadrat selbst die Innenseite aller Flächen des Flächenlandes betrachten. Es sieht und hört, was in allen Häusern Flächenlands vor sich geht.
Im Parlament wird gerade ein Dekret verabschiedet. Wie bei jeder Jahrtausendwende sollen alle Personen, die vorgeben, Offenbarungen aus einer anderen Dimension erhalten zu haben, getötet oder aber ins Gefängnis oder Irrenhaus eingeliefert werden. Das Quadrat ist so empört, dass es am liebsten von oben ins Parlament gesprungen wäre, um die Herren selbst von der dritten Dimension zu überzeugen. Die Kugel kann es gerade noch davon abhalten. Sie macht das Quadrat mit allen Gegebenheiten Raumlands vertraut, weiht es in die Geheimnisse der Perspektive ein und erklärt ihm die Bauweise der Körper.
Das Quadrat ist so begeistert, dass es zum Schluss auch noch ins Innere der Kugel blicken will. Wenn es eine Perspektive gab, aus der man das Innere der Flächen betrachten konnte, dann musste es auch eine Perspektive geben, die das Innere der Körper sichtbar werden ließ: eine vierte Dimension. Wenn wir ein Quadrat nach oben verschieben, entsteht eine geometrische Figur, die von sechs Quadraten begrenzt wird, wir nennen sie Würfel. Analog dazu – so der Gedanke des Quadrats – könnten wir den Würfel in eine neue Richtung verschieben und erhielten ein Gebilde, das von acht Würfeln begrenzt wird. Aus dieser Perspektive müsste man dann das Innere jedes Körpers betrachten können.
Die Kugel war entsetzt: Eine solche Perspektive gebe es auf keinen Fall!
Abbotts Geschichte zeigt deutlich, wie schwer es ist, Wahrnehmungen zu vermitteln, die unserem Weltbild nicht entsprechen. Wir können eine „neue Dimension“ – ganz gleich welcher Art – nicht mit unseren gewohnten Denk- und Wahrnehmungsstrukturen erfassen. Eine „neue Dimension“ fordert ein neues Orientierungssystem, das wir erst nach und nach entwickeln können.