Mein Enkel schaute aus dem Fenster in den Innenhof. „Die Taube dort unten hat ein Band um den Fuß!“ Widerwillig beugte ich mich nach vorne. Auf dem Asphalt nicht weit von den Müllboxen stolzierte ein dunkel gescheckter Täuberich gurrend um seine Angebetete. „Der balzt, und den Faden hat er um den Fuß, weil er dauernd im Müll herumläuft“, knurrte ich.
Mein Enkel ließ sich nicht beirren: „Guck mal, die andere Taube fliegt oben in die Mauer.“ Das rostige Ende eines abgebrochenen Lüftungsrohres bot gerade genug Platz für eine Landung. Vorsichtig verschwand die umworbene, fast weiße Taube in dem Loch. Der Täuberich flatterte auf die Müllbox und nahm nervös seine Imponierhaltung ein.
„Die scheißen doch nur alles voll!“ Ich ging an den Küchentisch zurück und schlug die Lokalzeitung auf. „Stadt erstickt in Taubenmist. Stadtverwaltung untätig.“ „Scheißen alles voll und manche füttern sie auch noch.“ Genau das hatte ich dem alten Weib gesagt, das im Stadtpark immer auf der Bank saß und sich auch noch freute, wenn die Tauben neben ihr auf der Lehne landeten. Sie behauptete, die Vögel genau auseinanderhalten zu können. Der Gemusterte, zum Beispiel, wäre der Sohn von der grau Gefiederten. Pah! Mein Großvater war Taubenzüchter. Der kannte sich aus. Der war kein unbedarft fütternder Laie.
Ich brachte meinen Enkel nach Hause und schlenderte durch die Stadt. Die Geschäftsleute hatten die Geduld verloren. Auf den Hausvorsprüngen brachten sie Stachelmanschetten an. Die alten Steinmetzarbeiten überspannten sie mit Netzen. Nun musste die Stadt mitziehen. Helm, Mähne und Sattel des städtischen Reiterdenkmals wurden mit dünnen Eisenspitzen bewehrt. „Was sieht schöner aus? Ein paar weiße Kleckse oder schmierige Stäbchen?“, rief die alte Frau empört. „Abschießen sollte man alle“, ereiferte sich der Cafébesitzer. „Die Tauben vertreiben meine Gäste.“
Am nächsten Wochenende war ich wieder in der Stadt. Am Arbeitsamt hatte man die Unterseite des Bahnübergangs mit Draht vergittert. Beim Anbringen hatten die Arbeiter einige Tauben übersehen und eingesperrt. Jetzt lagen sie auf dem Drahtgeflecht. Der Hals einer weißgesprenkelten Taube war durch die Maschen gerutscht und hing schlaff herab. Daneben lag zusammengesunken der tote Körper ihres Partners. Tauben sind monogam, hatte mein Großvater erzählt.
Aufgrund der Lärmbelästigung verwarf die Stadt das Abschießen der Tauben und legte stattdessen Gift aus. Dies zeigte bald seine Wirkung. Zufrieden grinsend erzählte mir der Apotheker, dass die Müllabfuhr mit der Entsorgung der Kadaver kaum noch nachkäme.
Ein allgemeiner Sauberkeitswahn griff um sich. Auch Laub und Pollen sollten niemanden mehr belästigen. Allenthalben wurden Büsche beschnitten und Bäume gefällt. Ein Wirt pflasterte seinen Biergarten bis in die hintersten Ecken, worauf die Bäume kahl wurden und abstarben. Behängt mit bunten Lichterketten fiel das den Besuchern nicht weiter auf. Sie hielten es sogar für die neuste Attraktion. Mein Großvater war Taubenzüchter. Taubenmist, hatte er mal gesagt, ist der beste Dünger.
Der Täuberich im Hof war verschwunden. Verwirrt gurrend lief seine Angebetete, die weiße Taube, umher. Zwischendurch flog sie immer wieder das Loch in der Mauer an. Darunter neben den Boxen sammelte sich in einer windstillen Ecke der verdreckte Plastikmüll.
Kurz darauf ging ich nochmals in die Stadt. Entlaubte Bäume wurden Mode. In bunte Plastikschnüre gewickelt wurden sie mit Scheinwerfern angestrahlt. Tauben sah ich keine mehr. „Das Gift hat die Taubenpopulation nicht vollständig vernichtet“, flüsterte mir die alte Dame zu. „Die Tiere sind intelligent und lernen. Aber jetzt verbreitet man ein Virus. Das soll auch die letzten umbringen.“ Mit ziellosem Blick lief sie die Straße hinunter.
Ich ging zum Haus zurück, in den Hof zu den Müllboxen. Die weiße Taube lag tot am Boden. Mühsam erklomm ich die vordere Box und schielte in das Lüftungsrohr. Taubenfedern, Flaum und weißgrauer Taubenkot. „Mist“, entfuhr es mir. Dann überwand ich mich und fasste, „Dünger“ murmelnd, mit zusammengebissenen Zähnen in das Loch.
Vorsichtig zog ich die Hand heraus. In meiner Handfläche lag ein weißes, leicht glänzendes Ei. Es war noch warm. Behutsam wickelte ich es in ein Taschentuch und steckte es in die Jackentasche. Mein Großvater war Taubenzüchter.